Bedürfnisse: mein innerer Richter und ich.

Wieso fällt es uns so schwer, klar und eindeutig unsere Bedürfnisse zu formulieren?

-          Weil wir gelernt haben, unsere Bedürfnisse in erster Linie aus Rücksicht anderer gegenüber zurückzustellen. Gerade wir Frauen kriegen bereits in frühester Kindheit das Verständnis von der Tugend der Bedürfnislosigkeit anerzogen. Im jungen Alter, spätestens mit Beginn der Menstruation, fangen wir dann an, uns für unseren Körper zu schämen, weil er (noch) nicht dem Ideal entspricht und wir fortan für einige Tage im Monat „nicht normal“; „prä-menstruativ“; „hormongesteuerte Monster“; „einfach zickig und gereizt“ sind. Sorry.

-          Weil wir glauben, dass andere immer das Beste von uns erwarten und Bedürfnisse oftmals so bedürftig wirken und eigentlich wollen wir doch alle unkompliziert, anpassungsfähig und gelassen sein.

-          Weil der Selbstoptimierungstrend und ständige Vergleiche auf Social Media nicht viel Platz für eventuelle Ungereimtheiten, Unsicherheiten oder Ängste lassen. Zumindest bekommt man nicht allzu viele präsentiert und wenn, dann muss man sich darauf einstellen, dass zumindest ein bis fünf anonyme (Aus-)Nutzer ihren Spaß daran haben nochmal drauf zu hauen oder einen unqualifizierten gemeinen Kommentar zu hinterlassen.

-          Weil Bedürfnisse artikulieren auch Konsequenzen haben kann und die ist man eventuell noch nicht bereit zu tragen, vor allem nicht, wenn sie eine größere Veränderung bedeuten würden. Oder lediglich ein Eingeständnis. Das ist ja auch nicht immer leicht – im Gegenteil.

Das sind nur ein paar Ideen, warum es uns manchmal so schwer fällt unsere Bedürfnisse klar und direkt zu formulieren. Einfach ehrlich und offen. Schließlich geht es nicht nur mir so. Zumindest gehe ich stark davon aus. Korrigiert mich, wenn ich falsch liege. Fromm formuliert hier die Dringlichkeit sich selbst zu spüren und zu kennen.

„So wie man einen anderen Menschen und seine wahren Bedürfnisse kennen muss, um ihn zu lieben, so muss man auch sich selbst kennen, um zu verstehen, wo die eigenen Interessen liegen und wie ihnen gedient werden kann.“ (Fromm: 150)

Vielleicht ist vor allem das, das Problem: die eigenen Interessen und Bedürfnisse kennen und verstehen. Ich denke nicht jeder von uns, ist sich wirklich bewusst, was eigentlich tief in seinem Inneren vor sich geht. Wie auch? Bei dem ganzen (digitalen) alltäglichen Input ist es wahrlich eine Kunst, sich auf seine eigentlichen, persönlichen, echten Bedürfnisse zu konzentrieren. Ich für meine Fälle kann auf jeden Fall nicht behaupten, dass ich mir immer darüber bewusst bin, was in meinem Bewusstsein wirklich vor sich geht. Bewusst – das ist ein schöner Ausdruck. Absichtlich, gewollt, klar erkennend, geistig wach… ist die Definition des Dudens.  

Wer von uns kann nach dieser Beschreibung von sich behaupten, sich seiner Bedürfnisse wirklich bewusst zu sein?

Ich könnte die Frage nicht direkt mit „Ja“ beantworten – da bin ich ehrlich. Ist aber auch verdammt schwer. Man fühlt sich dann ja doch oftmals von Erwartungen erdrückt. Man denkt sie kämen von außen, aber letztlich kommen sie von einem selbst, oder nicht?! Bei mir ist es definitiv in den meisten Fällen genau so und nicht anders. Auch wenn mir das oftmals erst hinterher wirklich bewusst wird. Ein Zeichen, dass ich nicht wirklich bei mir gewesen sein konnte, sonst wäre es mir schließlich nicht erst im Nachhinein aufgefallen. Aber das ist okay – das ist menschlich. Der Alltag mit all seinen Ablenkungen und das Gefühl, sich dem weniger oft als eigentlich nötig entziehen zu können, ist zuweilen kräftezehrend. Mir ist es in dem Moment bewusst geworden, in dem ich mich dem Ganzen für eine Weile entzogen habe. All die Dinge, die man vorher für überlebenswichtig gehalten hat, hatten auf einmal an Wert verloren. Das entschleunigt ungemein.

Aber wie kann man dieses Gefühl auf unseren Alltag, unsere Realität übertragen? Wenn wir nicht gerade planen, die Wohnung aufzugeben, all unseren Besitz zu verkaufen und als Social Media / Digital Nomade durch die Welt, vorzugsweise Bali oder Südostasien, oder im alten VW-Bus durch Europa oder Australien zu reisen…

Zugegeben,

dass hört man einfach viel zu oft. Nicht jeder kann als Mindfulness- / Yoga-/ Lifestyle-/ Mental-/ Jobcoach unterwegs sein und sich den Rest des Einkommens mit Instagram-Promo und Posts verdienen. Also, wie kann es uns gelingen, auch im Alltag einfach mal die eigenen Bedürfnisse zuzulassen und klar zu kommunizieren? Fromm sieht den Ursprung des Problems in der Gegensätzlichkeit des Handelns und Denkens beim heutigen Menschen.

Die Folge ist, dass der heutige Mensch nach den Prinzipien der Selbstverleugnung lebt, aber in den Bedürfnissen des Selbstinteresses denkt. Er glaubt in seinem Interesse zu handeln, wenn er in Wirklichkeit nur Geld und Erfolg anstrebt. Er täuscht sich über die Tatsache hinweg, dass seine wichtigsten menschlichen Möglichkeiten unverwirklicht bleiben und dass er sich selbst verliert, während er das angeblich Beste sucht. (Fromm: 152)

Vielleicht wäre es leichter unsere Bedürfnisse klarer zu erkennen und zu formulieren, wenn wir wirklich einmal in uns hinein hören würden und überlegen, ob wir etwas für uns oder andere tun. Denn Erfolg hat am Ende viel mit Macht und Anerkennung zu tun und diese Merkmale kann man auch mit schöneren Dingen erlangen. Aber immer alles nur auf das Außen zu schieben, wäre dann doch zu einfach meiner Meinung nach. Aber ich denke Dinge auch gerne weiter, eigentlich könnte man es jetzt auch dabei belassen.

Was ich eigentlich damit sagen will: Sind die augenscheinlichen Erwartungen anderer nicht letztlich nur ein Spiegel unserer eigenen Ansprüche an uns selbst?

Ich denke schon. Schließlich unterstützen gute Freunde und (im besten Fall) Familie uns, egal wofür (oder für welchen Partner) wir uns entscheiden. Der innere Richter ist immer noch der strengste Richter. Daher können unsere Bedürfnisse auch eigentlich niemand anderem zur Last fallen, zumal wir die Konsequenzen in den meisten Fällen selbst tragen (müssen). Wenn man sich dessen bewusst ist erlangt man Güte sich selbst und anderen gegenüber.

“Man macht sich freier von Erwartungen, da das Wissen, dass man sie sich selbst auferlegt hat einem zugleich die Macht gibt, sich von ihnen zu befreien.“ 

Ab jetzt sollte es für Jedermann und Jedefrau leichter sein, sich die eigenen Bedürfnisse und Interesse zuzugestehen. Mit diesem Mindset erlaubt man sich, und im Gegenzug auch anderen, wertfreier und dadurch befreiter im Umgang miteinander zu sein. Klingt das nicht schön? Auf einmal werden Bedürfnisse zu etwas, was man teilen oder gemeinsam beheben kann. Sich daran erfreuen; Nähe und Verbindung spüren; Unsicherheiten und Verletzbarkeiten augenscheinlich machen und merken, dass es alles einfach nur menschlich ist. So ein Umgang würde vielen Menschen viele Ängste nehmen – meiner Meinung nach. Weniger Angst bedeutet im Umkehrschluss: mehr Liebe. Darum geht es doch am Ende, dass jeder geliebt werden will.

Ich glaub ich starte diese Woche mal den Versuch und formuliere, in jedem passenden Moment, klar was ich brauche und fühle. Mal schauen, was es bewirkt. Wer macht mit?

Ach ja,

Meditation ist übrigens der Schlüssel zum Bewusstsein. In diesen Momenten erscheinen mir meine Bedürfnisse (meistens) so klar, wie in sonst keinem Moment. Dafür muss man auch nicht ewige Jahre praktiziert, oder monatelang bei strenger Diät im Ashram gelebt bzw. geschwiegen haben. Begonnen habe ich damals beispielsweise mit einer App. Es gibt mehrere verständlich geführte, inspirierende und zugleich motivierende, anfängerfreundliche Meditation-Apps, die ich jedem sofort weiterempfehlen oder einfach mal ans Herz legen würde.

Namaste.

Erschienen in:

Im gegenteil! Liebe oder was?, 07.05.2019

“Mein innerer Richter und ich: Wieso fällt es uns so schwer, unsere Bedürfnisse zu formulieren?”

KLARHEIT (BLOG), 08.07.2019

Bedürfnisse: bedürfnisreich nicht bedürftig

 

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Bild

Kilian Amrehn

 

Literatur

Erich Fromm: Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik, München 2017.