Von früh-neuzeitlichen Banketten, Bällen und Empfängen bis Instagram.
Laut dem Philosophen Jean-Jaques Rousseau ist es die Gesellschaft, die den Menschen böse macht. Stimmt das? Sind es die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Böse in uns hervorrufen, die uns schlechte Dinge tun lassen?
Wie sagt man so gern: „Ich bin ein guter Mensch, der manchmal schlechte Dinge tut. Das ist normal.“ So falsch ist diese Aussage nicht. Ohne „schlecht“ gäbe es schließlich kein „gut“.
Aber wieso soll die Vergesellschaftung schuld daran sein, dass wir zeitweilig gegen unser eigentliches Naturell handeln?
Nun ja, nicht jeder kann voller Überzeugung sagen, in jedem Moment nach seinen eigenen, individuellen Bedürfnissen zu handeln. Unbefriedigte Bedürfnisse wiederum führen zu Wut. Und Wut ist oftmals der Katalysator für moralisch nicht ganz einwandfreie Aktionen. Unterdrückte Bedürfnisse führen zu Frust, Neid, Verständnislosigkeit und blinder Wut. Warum blind? Weil den Betroffenen, die Ursache für ihre, ich nenne es mal Bauchschmerzen, oft gar nicht wirklich bewusst ist - schließlich fängt Unterdrückung bereits im frühen Kindesalter an. (Stichwort: narzisstische Bedürfnisse eines Kleinkindes)
Vor allem sexuelle Störungen sind oftmals ein Resultat der Unterdrückung von sexuellen Bedürfnissen. Hinzu kommen die weiterhin bestehenden sozialen Klassen, die es dem Individuum schwer machen, sich frei zu entfalten, das eigene Potenzial voll auszuschöpfen und chancengleich behandelt zu werden.
Rousseau war es also, der erstmals die Gesellschaft als Subjekt der Verantwortlichkeit in der Geschichte des Denkens manifestierte. Diese Gedanken kamen dem Philosophen bereits Ende des 18ten Jahrhunderts. Hiermit ging eine Entfremdung des Individuums von seinen eigenen Bedürfnissen einher, denn die Annahme impliziert schließlich die Ablehnung des eigenen Genius und Hinwendung zum allgemeinen Usus. Höflichkeit und Anstand sind die maßgebenden Parameter in sozialen Interaktionen und das anerzogene Schuldempfinden lähmt das Individuum, indem es seine Handlungen fortwährend als „gut“ oder „schlecht“ einstuft. Überzogene Nächstenliebe.
Optimierte Selbstdarstellung anstatt Authentizität.
Aber woher kommt der Konformitätsdrang? Anpassung bedeutet Zugehörigkeit. Wir sind soziale Wesen, wir streben nach Anerkennung und Geborgenheit, indem wir uns anpassen und immer wieder versuchen unsere Stellung im sozialen Gefüge zu manifestieren. Problematisch wird es erst, wenn Druck und Gruppenzwang besteht; wenn man glaubt, nicht mehr dazugehören zu dürfen, nur weil man neue Ideen, oder ganz mutig: Verbesserungsvorschläge, einbringt.
„In unseren Sitten wie im Denken herrscht eine niedrige und betrügerische Gleichförmigkeit. Alle Geister scheinen in die gleiche Form gepresst. Ohne Unterlass fordert die Höflichkeit, befiehlt der Anstand bestimmte Dinge; immer folgt man dem Usus, nie dem eigenen Genius. Man wagt nicht mehr zu scheinen, was man ist; und in diesem ständigen Zwang tun die Menschen, die jene Herde bilden, die man Gesellschaft nennt, unter gleichen Umständen alle das Gleiche.“
Der soziale Druck hat schon einigen sozialen Wesen das Leben gekostet. Paradox. Bereits im Kleinkindalter werden unsere moralischen Parameter durch unser Umfeld geeicht und eröffnen uns eine völlig verzerrte Realität. Gewaltdarstellungen sind gesellschaftsfähig, die menschliche Nacktheit hingegen nicht. Die eigene Lust ist der Feind, Sexualität destruktiv. So kommt es, dass wir uns nach und nach von uns selbst entfernen. Ziel ist die optimierte Version, die gesellschaftlich anerkannt und somit salonfähig ist.
„Alle Geister scheinen in die gleiche Form gepresst.“
Rousseaus Aussage zeigt uns, dass dies kein Phänomen der heutigen Zeit ist. Im Gegenteil: es begleitet unsere Art scheinbar bereits seit über 250 Jahren. Auch wenn es früher noch kein Instagram oder Facebook gab, wo Narzissmus und Selbstdarstellung nach wie vor ihre größten Erfolge zu verbuchen haben, so war es hier gerade bei gesellschaftlichen Anlässen oder Großereignissen besonders wichtig, das eigene Ich bestmöglich zu präsentieren.
Der Titel für dieses Essay hätte also auch lauten können “Vergesellschaftung: Von gesellschaftlichen Anlässen zu Social Media.”, denn das was früher Empfänge, Festivitäten und gesellschaftliche Großereignisse waren, ist heute Instagram/Facebook/Twitter etc. Aus Plätzen/Orten wurden (online) Plattformen.
„Niemand kümmert sich mehr um die Wirklichkeit; alle setzen ihr Wesen in den Schein. Als Sklaven und Narren ihrer Eigenliebe leben sie dahin, nicht um zu leben, sondern um andere glauben zu machen, sie hätten gelebt.“
Status war alles.
Status verschaffte Macht. Aber Macht verschaffte noch lange keine Freiheit. Im Gegenteil: wer als besonders einflussreich galt, stand unter verstärktem Einfluss. Von außen. Der soziale Druck, sich den allgemeinen Erwartungen entsprechend zu verhalten, stieg. Das war also der Preis. Klingt eher nach einer Strafe. Natürlich gingen mit sozialem Status auch gewisse Privilegien einher, aber inwiefern man diese Privilegien auch zu eigenen Gunsten nutzen konnte, wurde wiederum von gesellschaftlichen Werten und Normen bestimmt. Frei war das Individuum demnach zu keiner Zeit. Heutzutage ist Status gleich Selbstwert, denn das ist das einzige was – zumindest temporär – steigt, wenn die Likes und Kommentare reinklingeln.
„Mit welcher Klarheit hätte ich dann all die Widersprüche unserer sozialen Ordnung aufzeigen können; mit welcher Kraft hätte ich alle Missbräuche unserer Einrichtungen darlegen, mit welcher Deutlichkeit hätte ich beweisen können, dass der Mensch von Natur gut ist und dass nur die Einrichtungen es sind, die ihn schlecht machen. (…) „Wo gibt es noch einen Menschen der Natur, der ein wahrhaft menschliches Leben führt, der die Meinungen der anderen für nichts achtet und der sich nur von seinen Neigungen und von seiner Vernunft leiten lässt, ohne Rücksicht darauf, was die Gesellschaft, was das Publikum billigt oder tadelt?“
Der Mensch braucht Struktur, das ist unwiderlegbar. Auch ein gewisses Maß an Gewohnheit und Routine hilft dem Geist, sich zu entwickeln. Allerdings ist auch hier wieder die Frage, inwiefern man sich innerhalb seiner eigenen Strukturen bewegt.
Lebe ich die Beziehungsform, die meinem Wesen entspricht? Übe ich den Beruf aus, der gleichzeitig meine Berufung ist? Wohne ich an dem Ort, der mir ein Gefühl von Heimat vermittelt? Fühle ich mich akzeptiert? Würde ich mein Handeln zu jeder zeit als authentisch bezeichnen? Habe ich nie das Gefühl mich zu verstellen oder etwas tun zu müssen, was nicht meiner Persönlichkeit entspricht?
Nur wenige werden alle diese Fragen mit „Ja“ beantworten können.
Warum ist das so?
Vielleicht weil wir in einem System leben, indem wir uns anpassen müssen, um zu überleben. Hier ist nicht die Rede vom nackten Überleben, aber für einige fühlt es sich eben so an, als müssten sie ihren Alltag überstehen - oder meistern, wie man so schön sagt. Wie viele Suizide geschehen aus Einsamkeit? (Viele.) Warum scheint social anxiety mittlerweile so etabliert wie Magen-Darm? Warum wird das Thema mentale Gesundheit immer wichtiger? (Nicht nur in der queeren Community) Wieso vereinsamen wir, wenn wir doch ständig connectet sind? (Zumindest mit dem nächsten Router.) Wieso fühlen sich viele mit all der Wahlfreiheit überfordert und enden in einigen Fällen rastlos und verloren auf der nächsten Therapeut:innen Couch?
Aus Überforderung entstehen Konflikte.
Erst mit sich selbst, dann mit anderen. Der Teufelskreis beginnt. Auch für dieses Problem hat der Philosoph eine Lösung, denn seiner Meinung nach sollte einzig und allein das Gewissen als Leitmotiv für das eigene Handeln gelten.
„Es gibt im Inneren der Seele ein angeborenes Gefühl der Gerechtigkeit und der Tugend, nach dem wir, unseren eigenen Grundsätzen zum Trotz, unsere Handlungen und diejenigen anderer als gut oder böse beurteilen, und dies Prinzip nenne ich das Gewissen.“
Voraussetzung hierfür ist jedoch ein angeborenes Gefühl der Gerechtigkeit und Tugend, welches dem Menschen als soziales Wesen innewohnen sollte. Jedoch ist es schwer, auch in der heutigen Zeit, auf seine Gefühle und vor allem sein Gewissen zu hören, wenn der soziale Druck in Form von überholten Geschlechterrollen und diskriminierenden Strukturen, die Diversität verhindern und Heteronormativität begünstigen, weiterhin besteht. Angst lähmt.
Aber was bedeutet Freiheit oder “frei sein” dann genau?
„Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“ (JJR)
Quelle: „Rousseau oder Der unglückliche Gefühlsdenker“, in: Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen im Alltag und Denken, München 2017, S.176-186.
Stichwort: narzisstische Bedürfnisse eines Kleinkindes, mehr hierzu in Alice Miller - Das Drama des begabten Kindes & Wolfgang Schmidbauer - Hilflose Helfer.
Photo by Christine Bongartz