Aus meiner Zeit in Barcelona...
Wenn man mich fragen würde, worüber ich zuletzt nachgedacht habe, würde mir spontan meine Zeit in Barcelona einfallen. Immer wieder taucht ein Wochenende in meinen Gedanken auf und mittlerweile weiß ich, woran das liegt. Die aktuelle Stimmung, die damit einhergehenden teils diffusen Gefühle, die beim Nachrichtengucken oder Gesprächen mit Freund:innen entstehen, erinnern mich an meine Zeit in Spanien vor mittlerweile 10 Jahren.
Mein Erasmus-Semester verbrachte ich in Barcelona. Im September 2012 flog ich nach Spanien und fand mich bereits am ersten Abend in meiner WG in Eixample zwischen 3 Männern und einer damals guten Freundin wieder. Sie begleitete mich nach Barcelona und ich sie am nächsten Tag nach Zaragoza. Sie sprach kaum Spanisch, ich half ihr bei der Wohnungssuche. Mein Appartement hatte ich bereits im Vorhinein über Facebook gefunden und so verbachten wir die ersten beiden Tage im Landesinneren und schauten uns gemütliche, kleine Wohnungen und das Städtchen an. Es hatte einen echt malerisch-altertümlichen Charme.
Am Dritten Tag fanden wir eine Bleibe und ich fuhr zurück Richtung Meer, in Gaudís Stadt. Meine Mitbewohner begrüßten mich und wir zogen die nächsten Tage viel um die Häuser. Sie waren bereits einige Wochen in der Stadt und zeigten mir die typischen Spots, die wohl alle Studenten:innen kennen. Es war eine sehr witzige, leichte und aufregende Zeit. Es war mein erstes Mal in Barcelona und ich war überwältigt von ihrer Schönheit. Ich fühlte mich direkt wie zuhause und dank meiner Spanischkenntnisse hatte ich auch wenig Verständigungsprobleme.
Außer an der Uni, denn die war eigentlich katalanisch und neben Spanisch gab es nur wenige Erasmuskurse auf Englisch. Ich belegte alle Module auf Spanisch: Geschichte, Wirtschaft und Literatur. Dennoch fand ich mich in den Kursen hauptsächlich zwischen ausländischen Studierenden wieder, denn als Spanischsprachige, gehörten wir in Barcelona nicht zu den „Einheimischen“. Die saßen in den katalanischen Klassen und als Deutsche hatte ich zu der Zeit nicht immer das Gefühl, mit offenen Armen begrüßt worden zu sein.
Etwas mehr Kontext: 2012 tobte in Barcelona der Kampf um die Unabhängigkeit Kataloniens zeitweise in Form von Demonstrationen auf den Straßen, anlässlich der vom Präsidenten Artur Mas als Vorstehender einer Minderheitsregierung der CiU, vorgezogenen katalanischen Parlamentswahlen. Zu der Zeit hatte die Euro-Krise unter anderem Spanien fest im Griff und auf den Straßen wurde dem Ärger gegenüber Merkels Nicht-Eingreifen sowie Handeln Luft gemacht. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal Geld abheben wollte und zu meinem damaligen Geldinstitut, der Deutschen Bank, spazierte, als ich bemerkte, dass die Frontscheiben zerstört und die gesamte Filiale mit Farbbeuteln beschmissen wurde. Außerdem waren Parolen wie „Déjanos, Alemania!“ (Lass uns in Ruhe, Deutschland! / Haut ab!), „Visca Catalunya“ und „Nazi Merkel“ an die Wände geschmiert.
Wenn ich in einer Bar einen anderen Studenten auf Spanisch ansprach und er an meinem Akzent erkannte, dass ich woanders herkam, berichtigte dieser mich, nicht nur ein mal, dass man hier in Barcelona eigentlich Katalanisch sprechen würde. Zugegeben, in der Stadt dominiert die katalanische Sprache und Spanisch wird überall erst als Zweites oder weniger sichtbar angezeigt. Von Touristen stark besuchte Lokalitäten, Orte oder Sehenswürdigkeiten sind davon natürlich ausgenommen. Aber auch die katalanischen Feste und Feiertage werden weiterhin groß zelebriert und katalanische Künstler:innen, Musiker:innen und Autor:innen öffentlich präsentiert und mancherorts in den Fokus gerückt.
Ich belegte einen Katalanisch Intensivkurs und absolvierte in 3 Monaten das Level A2. Es hat Riesenspaß gemacht und ich konnte dabei mit dem allgemeinen Vorurteil aufräumen, dass es sich hierbei ja lediglich um einen Dialekt des Spanischen handele und der ganzen Sprachdebatte viel zu viel Bedeutung beigemessen würde. Schwachsinn, Katalanisch ist eine Sprache mit eigener Literaturtradition und historischer Sprachentwicklung. Das gilt ebenso für Baskisch und Galizisch. Wie dem auch sei, fortan konnte ich zumindest Small Talk bestreiten und verstand so gut wie alles – zumindest aufgeschrieben, aber auch Zuhören fiel mir immer leichter.
Der 14. November sollte ein besonderer Tag sein. Der Iberischer Streik 2012 war ein Generalstreik, zu dem verschiedene spanische Gewerkschaftsorganisationen aufgerufen hatten und dem sich verschiedene europäische Gewerkschaften und Kollektive anschlossen.
Es war klar, dass die Demonstration auch von radikaleren Stimmen instrumentalisiert wurde, und es fanden sich viele gewaltbereite Autonome, Mitläufer: innen und Anhänger: innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zur Kundgebung am Plaça Catalunya, direkt vor Kopf des bekannten Boulevards Les Rambles, ein. Nach der Demonstration wurde randaliert, es kam zu zahlreichen Zwischenfällen und man spürte die aggressive Stimmung buchstäblich in der ganzen Stadt. Ständig Sirenen, Sprechchöre, Menschengruppen, die aufgescheucht durch die Gassen rannten und die Mossos in voller Montur, mit Schlagstöcken und Wasserwerfern hinterher. Natürlich brannten Polizeibusse, Straßenbarrikaden, Müllcontainer und PKWs. Zahlreiche Schaufenster wurden beschmiert, demoliert oder beides. Einige Bushaltestellen waren am nächsten Tag schlichtweg zerstört und mal wieder hatte es auch die Deutsche Bank getroffen.
Unruhen im Kiez sind in Friedrichshain-Kreuzberg ebenfalls keine Seltenheit. Allerdings wirken die Straßenschlachten im Vergleich eher wie ein ausgeufertes Straßenfest - mit Pyrotechnik beleuchtet. Sorry Schwarzer Block, aber Barcelona war krasser.
Es herrschte viel Gewalt, damals am 14. November 2012, und am nächsten Tag kursierten Videos von der katalanischen Polizei, den mossos d’esquadra, wie sie unter anderem auf Zwölfjährige friedliche Demonstrationsteilnehmer: innen mit Schlagstöcken losgeht und massenweise Videos von geplatzten Augenbrauen, Prellungen, rot-tränenden Augen mit Reizgas vernebelt und viel wütende oder weinende Demonstrant:innen. Die sogenannten „mossos“ sind für ihre Gewaltbereitschaft und unverhältnismäßigen Reaktionen bekannt, seit 1994 haben sie die Policia Nacional ersetzt und waren zuletzt 2008 wegen zahlreichen Fehltritten und Gewalttaten sowie Folterungsvorwürfen in den spanischen Schlagzeilen.
Ein Brei aus Bedürfnissen: Es waren so viele Stimmen dabei. So viele Forderungen und Ungerechtigkeiten, die lauthals rausgeschrien wurden. Die Demonstrant:innen waren beispielweise für die Unabhängigkeit Kataloniens und gegen die wirtschaftliche Unterdrückung durch Madrid, aufgrund von immensen Steuerzahlungen, mit denen sie die hohe Staatsverschuldung auszugleichen suchten, zumal beinah die gesamte Textil-, Auto- und weitere Industrie in und um die europäische Hafenstadt Barcelona im reichen Katalonien sitzt. Sie versprachen sich durch eine Loslösung und Ausstieg aus dem Euro bessere Lebensbedingungen und steigende Löhne. Niedrige Löhne und steigende Immobilienpreise in Folge der Immobilienkrise 2008, hatten das Wohnen und Leben in Großstädten beinah unbezahlbar gemacht. Kein allein spanisches Problem - wie wir alle wissen und erleben.
Es gab auch Anfeindungen unter den Demonstrierenden, zwischen Spanier:innen und Katalan:innen. Auch geografisch war die Stadt durch eine Nord-/Süd-Achse in zwei sprachliche Zonen unterteilt. Alles über dem Park Güell, oberhalb der Stadt, ist gröpßtenteils in katalanischer Hand, ebenso das Viertel Gràcia und ein paar alte Bars in El Poble-sec. Aber alles Richtung Küste und am Strand, wo vorzugsweise Tourist:innen – natürlich – und (ausländische) Arbeiter:innen sowie Immigrant:innen und Studenten lebten, ging das Katalanische in dem internationalen Sprachgewirr unter.
Barcelona und Berlin haben noch eins gemeinsam: Diese Städte sind immer in Bewegung. Allein acht Universitäten befinden sich in der katalanischen Hauptstadt; zahlreiche Industrie sowie jede Menge Sehenswürdigkeiten und Kunst - ein mehr als beliebtes Ziel für Tourist:innen aus aller Welt, seit Jahrzehnten. Und ein beliebtes Ziel für (illegale) Einwanderung – klar, der internationale Hafen bietet günstige Bedingungen und Spaniens autonome Städte auf dem afrikanischen Kontinent, Ceuta und Melilla, sowie Rolle an Europas südlicher Grenze, der Straße von Gibraltar, sind dabei ein wichtiger Faktor.
Am Ende habe ich viel gegeben, um den anhaltenden Identitätskonflikt in der katalanischen Bevölkerung und die anhaltenden Spannungen zwischen Madrid und Katalonien zu verstehen. En castellano y al catalan. Ich habe sogar meine Bachelor-Arbeit über den Identitätskonflikt in der Geschichte, seit Francos Machtübernahme und folgender Unterdrückung, geschrieben. Die katalanische Kultur ist mir also alles andere als fremd und ich habe vor Ort versucht, so viel wie möglich in das kulturelle und alltägliche Leben einzutauchen. Ich zelebrierte katalanische Feiertage und erkundigte mich über ihre Bedeutung und die dazugehörigen Feste; ich erlernte die Sprache; las zeitweise katalanischer Literatur und bemühte mich ab und an um Gespräche mit Einheimischen.
Mit Spanier:innen sowie (überzeugten) Katalan:innen, denn beide Perspektiven sind wichtig. Dazwischen gibt es auch etwas. Nämlich die, die es leid sind, zu diskutieren, weil sie lieber (Ver)Einen als Konflikte analysieren zu wollen. Sie zeigen Verständnis für beide Seiten und passen sich sprachlich ihrem Gegenüber oder der Gruppe an – ohne einen großen Hehl daraus zu machen. Krisen treffen alle unterschiedlich, dementsprechend reagiert auch jede:r anders.
10 Jahre später… Manchmal, wenn ich in Friedrichshain auf meinem Balkon sitze und höre, dass wieder irgendwo ein linksautonomes, kulturelles Zentrum geräumt wird, oder aus anderen Gründen Demonstrationen anstehen, erinnere ich mich an dieses Wochenende. Damals in Barcelona als ich ebenfalls auf meinem Balkon, mit bestem Blick auf die Szenerie, saß und das Spektakel mal mehr mal weniger aktiv verfolgt habe. Natürlich bin ich auch oft dabei und schaue es mir selbst an, aus nächster Nähe. Unruhen im Kiez – ich könnte ein ganzes Album mit Stories, Bildern und Videos dazu füllen. Schade, dass ich damals noch kein Smartphone hatte. Von den Momenten sind mir in erster Linie Erinnerungen und vielleicht 1,2 verschwommene Bilder geblieben. Zum Glück gibt’s Youtube und Co. Externe digitale kollektive Erinnerungen.
Warum ich jetzt gerade darüber schreibe? Die Frustration, die ich aktuell in meinem Umfeld, aber auch auf Social Media und auf anderen Kanälen verspüre, wenn es um die aktuell steigenden Inflationsraten, Lebensmittel- und Gaspreise geht, erinnert mich an den Frust, den ich damals bei politischen Diskussionen in Barcelona wahrnahm. Zugegeben, vor 10 Jahren hätte ich nicht gedacht, als ich Portugies:innen oder Spanier:innen kennenlernte, die in der Großstadt mit Anfang 30 in WGs lebten und sich Sorgen um ihre finanzielle Zukunft, aufgrund von befristeten Arbeitsverträgen und steigenden Mietpreisen bei sinkendem verfügbarem Wohnraum, machten, dass es bei mir oder einem Großteil meines Bekanntenkreises der gleiche Weg sein wird. Gerade in der Kreativbranche, vor allem als Selbstständige, aber auch in vielen, vielen anderen Bereichen. Allein die Gehälter in der Pflege sind ein Witz - vom Niedriglohnsektor ganz zu schweigen.
Es sind andere Themen, aber ein ähnliches Frustrationslevel. Unzufriedenheit hat sich in vielen Bevölkerungsschichten, gerade seit der Pandemie und durch den Ukraine Krieg erneut entfacht, breitgemacht. Die Preise steigen, Güter werden knapp, einst alltägliche Dinge ein Luxus. Ja, das erinnert mich sehr an die Geschichten, die sie mir vor 10 Jahren erzählten, oder anders gesagt: an die Gefühle, die sie versuchten zu beschreiben. Ihre Ängste, Träume und aktuellen (Überlebens-)Strategien – existenziell, mental und körperlich.
Das war teilweise ein Balance-Akt. Wohin mit der ganzen Wut, dem ganzen Frust? Ab auf die Straße.