Natürlichkeit: In was für einer Welt leben wir eigentlich?

In einer Welt, wo Kindern an der Supermarktkasse Bilder von entstellten Lungen, Raucherbeinen und toten Menschen präsentiert werden, während Nacktheit für Entsetzen sorgt.

In den Nachrichten geizt man nicht mit reißerischen Schlagzeilen und Bildern von Unfallopfern, öffentlich ausgestellt im Schaukasten der Regenbogenpresse und im Trash-TV. Auch das ist in Ordnung, solange keine nackte Brust oder Unterleib zu sehen ist. Natürlich muss man – vor allem Kinder – vor zu viel Nacktheit schützen, aber müssen wir sie nicht auch vor Gewalt und oben genannten grausamen Darstellungen schützen?!

Warum wundern wir uns, wenn sexuelle Störungen in unserer Gesellschaft immer weiter zunehmen, wenn die Gesellschaft selbst kein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper und der Sexualität zulässt?!

Der menschliche Körper gehört versteckt. Selbst Nippel können für Empörung sorgen und werden daher mutwillig zensiert, obwohl sie für etwas Natürliches, Schönes stehen. Jedes Kind weiß, dass es von einer nackten Brust nichts Böses zu erwarten hat, trotzdem ist es selbst in modernen, sozialen Medien wie Instagram, Twitter und Facebook unmöglich eine schöne Brust in ihrer Gesamtheit darzustellen.

Geilheit als Schwäche

Fortpflanzung ist ein Trieb, besser gesagt ein Erhaltungstrieb. Indem man ihn unterdrückt, unterstützt man lediglich Fehlausprägungen. Verbotenes ist schließlich interessant. Auch gesellschaftliche Stigmatisierungen wie „Schlampe“ oder „Schlappschwanz“, die jede und jeder mindestens einmal in seinem Leben zu hören bekommt, der seine eigene Sexualität frei und offen lebt, tragen dazu bei, dass Sehnsüchte und Wünsche entstehen, die das Individuum vor einen Konflikt stellen. Geilheit wird zu einer Schwäche. Triebgesteuert. Wer will denn schon triebgesteuert sein? Man fängt an, sich für seine eigene Lust zu entschuldigen. Sie ist etwas Schlechtes, sie ist tabu. Ja, was das angeht, sind wir immer noch im Zeitalter des mittelalterlichen Christentums gefangen.

Was ich damit sagen will: Wie stellen wir uns eine freie Gesellschaft vor, ohne Diskriminierung oder dergleichen, wenn wir bereits mit der Erziehung einer Doktrin unterliegen, die uns an uns zweifeln lässt?

Aus Zweifel entsteht Unsicherheit, aus Unsicherheit Angst, aus Angst Resignation oder Wut. Würden wir bereits in frühester Kindheit eine gute Beziehung zwischen unserem Körper und unserem Geist vermittelt bekommen, dann könnten wir uns im jungen Erwachsenenalter viel Zeit ersparen, die wir dafür aufwenden müssen, um wieder mit uns im Einklang zu sein. Denn das beobachte ich seit geraumer Zeit: Die Generation Y fühlt sich oftmals verloren, haltlos, perspektivlos und überfordert. Auch ein Übermaß an Möglichkeiten hat negative Konsequenzen. Die Dosis macht das Gift. Das gilt nicht nur für Drogen, sondern für alles was der Mensch konsumiert und tut.

Die unaufgeklärte Wissensgesellschaft

Die Medien konzentrieren sich ausschließlich auf die schlimmsten Auswüchse des Menschen und die katastrophalen Folgen seines unbedachten Handelns. Bilder von Kriegen, gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Naturkatastrophen, die immer wieder unzählige Opfer fordern, dominieren die Medienlandschaft. Dabei kann der Mensch doch so viel mehr. Vor allem ist er auch in der Lage, Wunderschönes zu erschaffen.

Wieso legen wir den Fokus nicht einmal darauf?

Dazu kommen die ständigen Zensierungen, die einem die eigene Nacktheit als falsch und vor allem gefährlich erscheinen lassen. Wieso erklären wir Kindern nicht, dass sie sich für ihren Körper nicht zu schämen brauchen und wieso beschränkt sich Sexualerziehung bis heute bloß auf das Thema Verhütung? Wieso wundern wir uns, wenn junge Erwachsene ihr gesamtes Wissen aus Pornos beziehen und in der Realität auf Missverständnisse oder Irritation stoßen? Wie wollen wir von einer aufgeklärten Gesellschaft sprechen, wenn wir alles sind, aber nicht aufgeklärt?

Es ist Zeit, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu überprüfen und zu aktualisieren.

Die Hippies versuchten dies bereits in den frühen Sechzigern, jedoch überforderten sie ihre Mitmenschen mit ihrer scheinbar grenzenlosen sexuellen Offenheit und Frivolität. Diese Aussteiger-Gegenbewegung hatte sich schließlich die Rückkehr zur Natur auf die Fahne geschrieben und versuchte, über antiautoritäre Erziehungsstile und mit viel Liebe etwas mehr Lockerheit in die bürgerliche Gesellschaft zu bringen.

Allerdings war es die übersteigerte Lockerheit, bedingt durch ständigen Rausch durch den Konsum von Drogen, die die Bewegung letztlich zum Scheitern brachte und Hippies in der zeitgenössischen Betrachtung allgemein als langhaarige Nichtstuer stigmatisierte.

Was ist an dieser Stelle auffällig? Die Hippies in Deutschland stellten eine radikale Gegenbewegung zur bürgerlich-konservativen Lebensweise dar. Die Gesellschaft, aber auch die Regierungen unter Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und später Willy Brandt waren konservativ, tief geprägt durch den Nationalsozialismus, die christliche und/oder preußische Erziehung und den allgemeinen Mangel in Nachkriegsdeutschland. Die Menschen waren noch nicht bereit für neue Lebens- und Beziehungsmodelle: Gemeint ist das Leben in der Kommune, sexuelle Freiheit, Drogen zur Erweiterung des Bewusstseins, bunt, schrill und letztlich die Befreiung vom konservativen Mief.

Diese Entwicklung vollzog sich ausschließlich in Westdeutschland. In der Deutschen Demokratischen Republik, wo das kommunistisch-atheistische Regime sich wenig um christliche Züchtigungsnormen scherte, entstand folglich eine neue Freikörperkultur (FKK), die die Nacktheit immerhin wieder zurück an die (ost-)deutschen Strände und Badeseen brachte.

Zugegeben: FKK-Strände sind nicht für jedermann was. Aber wieso eigentlich? Schließlich wurden wir nackt geboren und gerade hier manifestiert sich unsere Gleichheit. Ist es vielleicht das, was uns so viel Angst macht?

Unter schönen Klamotten, einem sexy Kleid, einer schicken Hose oder einem feschen Hemd kann man immer noch etwas verstecken: faltige Haut, Schwangerschaftsstreifen, den Bierbauch oder auch die Reiterhosen. Jeder kann seinem Gegenüber etwas vorgaukeln. Warum geben wir uns sonst so viel Mühe die passende Hose mit dem besten Sitz zu finden, auf dass der Hintern noch höher sitzt und die Taille noch schlanker aussieht?!

Nackt wäre das alles nicht möglich. Nackt wären wir echt. Einfach wir. Gerade heutzutage wäre das ein Zeichen. Ein Zeichen, das man setzen würde, fernab von jeder Schönmalerei und übersteigerten Selbstdarstellung.

Einfach natürlich.

Natürlichkeit.

Erschienen in:

Neue Debatte. Journalismus und Wissenschaft von unten, 24.09.2018

Nackte Tatsachen: #naturalness