Gast-Interview Nadine Primo by VIKA
Intime Geständnisse und ihre Auffassung von Liebe & Sexualität
Zuletzt hatte Nadine immer wieder über starke Frauen wie Charlotte Roche, Ines Anioli, Cara Delevingne und VIKA selbst geschrieben. Jetzt steht sie selbst im Fokus und hat sich Viktorias Fragen gestellt. In diesem Interview erfahrt ihr also, wie Nadine dazu kam, über (Bi-)Sexualität und allen voran sexuelles (Selbst-)Bewusstsein zu schreiben. Außerdem teilt sie ihre Auffassung von Liebe und spricht über vergangene Beziehungen und was Sexualität für sie bedeutet. Praktische Tipps, oder besser gesagt: sexuelle Orientierungshilfen für Eltern und ihre Kinder sind auch dabei. Viel Spaß damit!
VIKA: Wie bist du zu deinem jetzigen Job gekommen?
Nadine: Das war nicht geplant oder so. Ich habe damals angefangen mein Schreiben, was anfangs in erster Linie ein Tagesbuch meiner wiederkehrenden Gedankenkarusselle war, zu veröffentlichen. Als erstes auf Facebook und dann habe ich mich bei verschiedenen kleineren Online-Redaktionen beworben -als freie Autorin. So hat das dann alles seinen Lauf genommen, weil die Themen Bisexualität und alternative Beziehungskonzepte, vor fast 4 Jahren, echt viel Zuspruch gefunden und Interesse bei den Leser*innen geweckt haben. Daraufhin habe ich viel über Sexualität und Beziehungen geschrieben. Allerdings lebe ich bis heute nicht allein vom Schreiben. Aber hauptberuflich Autorin zu sein ist weiterhin mein Ziel. Aktuell verdiene ich mein Geld hauptsächlich durch das Modeln und meiner Arbeit als Podcasterin. Bezahlte Auftragsarbeiten und kleinere Auftritte als Speakerin in TV/Podcast und Radio bekomme ich mittlerweile auch immer öfters angeboten. Darüber freue ich mich jedes Mal sehr! Die Themen haben sich durch meine letzte Beziehung ergeben, meine erste offene Beziehung. Dann natürlich, weil ich selbst bisexuell bin und, wie gesagt, durch die Anfragen, die als Reaktion auf meine Texte im Internet und auf Social Media kamen. Ich habe das Private politisch gemacht.
VIKA: Schreibst du über diese Themen auch am liebsten oder würdest du gern auch über andere Themen schreiben?
Nadine: Ich muss schon ehrlich zugeben, dass es sich vorrangig aufgrund der großen Nachfrage gezielt in diese Richtung entwickelt hat. Denn als ich damals mit dem Schreiben angefangen habe, ging es noch um andere Themen, zumal ich laut meines Bildungswegs und vorherigen Projekten/Jobs aus einer anderen Ecke – der Geschichte/Politik/Romanistik – komme. Ich hatte zuvor beispielsweise ein Essay über Jozef Stalin in einem Sammelband über „politische Persönlichkeiten und ihre weltpolitische Gestaltung“ publiziert. Eine Zeit lang beschäftigte ich mich auch intensiv mit der Liberalisierung der Drogendebatte und der Entwicklung unserer Gesellschaft in Zeiten von Algorithmen, Social Media und wie wir unser Verhalten weiterhin dem kapitalistischen System anpassen und uns am Ende darin verlieren.
„Sind wir wirklich frei? Was bedeutet Freiheit? Was hat unsere Sexualität damit zu tun? Einiges, wenn nicht sogar (fast) alles.“
Unser sexuelles Verlangen ist ein unglaublich starker Trieb. Das merkt Mensch spätestens daran, wie viel seit Jahrtausenden dafür getan wird, diesen zu unterdrücken. Manchmal auf grausamste Art und Weise. Statistiken beweisen, dass homo-/bi-/transsexuelle Menschen höhere Depressions-/Suizid- und Suchtraten aufweisen, als heterosexuelle Menschen. Das Gefühl nicht „normal“ zu sein, geißelt dich in deinem Handeln; in deinem Denken; in deiner Art zu leben. Das gilt auch für sexuelle Störungen wie Pädophilie oder Sodomie.
„In sexueller Frustration, (angeborenen) Störungen, Krankheiten oder Unterdrückung der wahren sexuellen Orientierung liegt oftmals der Ursprung allen Übels. Der Kern der Unfreiheit.“
Daher liegt mein Fokus mittlerweile ganz stark auf Sexualität und der Entwicklung sexuellen (Selbst-)Bewusstseins. Ich bin mir aber auch im Klaren darüber, dass es nur der Moment ist. Irgendwann werde ich bestimmt auch noch mal über andere Themen intensiver schreiben. Aktuell mache ich das bei meiner Tätigkeit als Ghostwriterin für verschiedene Blogs und Magazine.
VIKA: Bist du glücklich damit? Entwickelt es sich nach deinen Wünschen?
Nadine: Ja, ich bin zufrieden, weil ich merke, dass ich damit etwas bewege. Außerdem bin ich mir durchaus meiner privilegierten Lage, dank Model- und Moderatorinnen-Jobs, bewusst. Ich hätte nicht gedacht, als Selbstständige so schnell unabhängig zu sein und dafür bezahlt zu werden, meine Meinung/Gedanken/Erfahrungen kundzutun. Das ist schon krass. Zugegeben, manchmal schüchtern mich diese Gedanken auch ein. (grinst verlegen)
„Das Ziel meiner Arbeit ist es, dass ich am Ende des Tages das Gefühl habe, dass die Menschen von meiner Arbeit profitieren und ich sie erreichen konnte.“
Das Gefühl habe ich auch, weil ich über alle möglichen Plattformen regelmäßig Zuschriften von Follower*innen bekomme, die sich bedanken, weil sie sich durch das Lesen meines neuen Blogposts oder Kolumne abgeholt gefühlt haben, aber in erster Linie: nicht mehr allein mit ihren Gedanken, oftmals Ängsten, fühlen. Ehrlich währt am längsten. Das habe ich dabei gelernt.
„Wenn ich „blankziehe“, im wahrsten Sinne des Wortes, sind die Reaktionen am Überwältigendsten.“
VIKA: Manchmal plant man sein Leben, auch wenn Mensch es eigentlich nicht wirklich planen kann. Dennoch: Wo siehst du dich in 5 Jahren? Beruflich und privat.
Nadine: Da kriegst du leider eine ganz einfache Antwort drauf: absolut keine Ahnung. (Vika: lacht laut) Da kann ich dir wirklich nichts zu sagen. Mein Leben ist bis jetzt nicht ansatzweise so gelaufen, wie ich mir das beispielweise vor 5 Jahren noch vorgestellt hätte.
VIKA: Okay. Ich muss zugeben, dass es bei mir genauso ist. Also, dass es im Leben immer anders kommt als Mensch es plant. Aber trotzdem, wenn du mich zum Beispiel heute fragen würdest, wie ich mir mein Leben in 5 Jahren vorstelle, dann würde ich dir antworten, dass ich bis dahin meine eigenen Laden auf Bali und einen in Berlin haben werde. Das kann ich mir sehr gut vorstellen.
Nadine: Alles klar, verstehe. Wenn du mich nach meiner Vision fragst, dann würde ich dir sagen, dass ich in 5 Jahren mein zweites, vielleicht sogar drittes, Buch - am besten natürlich Bestseller (lacht) – veröffentlicht habe und nicht mehr als Model vor der Kamera stehe, sondern wirklich nur noch im Hintergrund aktiv bin. Am liebsten in meiner geilen Wohnung, nicht mehr direkt in der Stadt, im Grünen im Garten oder auf dem Balkon… die meiste Zeit am Schreiben.
VIKA: (lacht) Ja, das klingt doch gut. Das hört sich nach einem guten Plan an. Es geht weiter und wir wechseln das Thema. Wie oft warst du schon verliebt und war es jedes Mal unterschiedlich? Wie würdest du Liebe beschreiben?
Nadine: Oha, das sind wirklich tiefgründige, fast schon philosophische Fragen. Wie oft ich verliebt war, weiß ich gerade gar nicht so genau. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es im Vergleich mit anderen nicht so oft der Fall gewesen ist. Wobei ich auch der Überzeugung bin, dass zwischen Verliebt- und Verknalltsein auch noch mal ein Unterschied besteht. Verknallt war ich öfters, richtig verliebt seltener und wirklich geliebt, nach meinen heutigen Maßstäben, habe ich genau einmal. Natürlich war es jedes Mal unterschiedlich, denn ich war jedes Mal ein anderer Mensch. Anderes Alter, andere (Lebens-)Umstände, andere Entwicklungsstufen meiner Persönlichkeit, anderes Umfeld… und dementsprechend hatte ich auch andere Sehnsüchte und unterschiedliche Bedürfnisse, die gestillt werden mussten.
„Daher hat sich das Verliebtsein auch immer anders angefühlt: mal leidenschaftlicher, mal geborgener, mal verrückter, mal weniger intensiv...“
Was Liebe für mich bedeutet und wie ich sie beschreiben würde? Liebe hat für mich in erster Linie nichts mit sexueller Exklusivität zu tun, weshalb Monogamie für mich auch nicht das Vorzeige-Konzept ist, sondern auch nur eine Alternative. Liebe ist für mich wie ein warmes Gefühl, dass dir am Ende des Tages Wärme und Sicherheit sowie Geborgenheit und Vertrauen spendet. Liebe ist Urvertrauen und sollte daher bedingungslos sein. Liebe ist für mich ungebrochene Loyalität, emotionale Treue und Verständnis. Liebe ist Akzeptanz, Mitfreude – alles andere ist Ego. Liebe bedeutet nicht, den/die Partner/in verändern zu wollen. Wir wollen ja auch nicht verändert werden, sondern unserer selbst Willen geliebt werden.
VIKA: Du scheinst das ja alles viel analysiert und reflektiert zu haben. Darüber hinaus schreibst du viel über Beziehungskonzepte und Ängste sowie Erwartungen, die damit einhergehen. Würdest du sagen, dass du persönlich „bessere“ romantische Beziehungen führst seitdem du dich so ausführlich mit diesen Themen beschäftigst und sogar als Speakerin, also Ratgeberin, gebucht wirst?
Nadine: Ich würde gerne sagen: Ja, definitiv! Aber das stimmt nicht wirklich… manchmal habe ich eher das Gefühl, dass ich öfters dazu neige, zu viel zu analysieren und dadurch Probleme vielleicht auch erst entstehen zu lassen. Wer viel zerdenkt, findet auch viel Konfliktpotenzial. Es fällt mir seitdem auf jeden Fall leichter, gerade nach hitzigen Diskussionen oder wilden Streitereien, schneller wieder runterzukommen und mich in die Lage meines/r Partners/in reinzuversetzen. Manchmal habe ich außerdem das Gefühl, zu viel zu rationalisieren und dadurch weniger zu fühlen. Meine letzte Trennung war auf jeden Fall erwachsener als alle anderen zuvor. Hier hat mir das ganze „Wissen“ auf jeden Fall geholfen.
„Ich würde mich als toleranter und gnädiger in meinen heutigen romantischen Beziehungen bezeichnen – mir selbst und meinen Partner*innen gegenüber.“
Aber generell trügt der Schein: Menschen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, führen nicht zwangsläufig ausgeglichene, geschweige denn beinahe perfekte Liebesbeziehungen.
VIKA: Spannend. Damit hätte ich jetzt auch nicht direkt gerechnet, aber es ergibt schon Sinn. Zu viel denken ist eben auch nicht die entspannteste Lösung. Letzte Frage: Was könnten Eltern deiner Meinung nach tun, um ihren Kindern ein gesundes sexuelles Bewusstsein zu vermitteln?
Nadine: So dumm es klingt, aber aufgrund der mangelnden Sexualerziehung, die bis heute in den Schulen vorherrscht, ist es wichtig zu begreifen, dass sich viele junge Menschen ihr Wissen und Inspiration im Internet u.a. auf Pornobörsen holen. In vielen Haushalten wird über sexuelle Aufklärung gesprochen, denn natürlich ist es in erster Linie die Aufgabe der Eltern. Aber die Realität sieht oftmals anders aus und viele Kinder haben in der Pubertät eben niemanden, den sie um Rat fragen oder sich offen und ehrlich anvertrauen können. Das noch größere Problem ist, dass der Sex, den die Kids im Netz leicht zugänglich serviert bekommen, alles andere als authentisch ist. Er bedient oftmals nur ein Klischee: Der gierige Mann nimmt sich was er will und wann er es will, im besten Fall eine noch gierigere Frau – bisexuell, natürlich.
„Hier geht es nicht um Lust und Intimität, sondern um Ficken nach Klicks für wenig Gage.“
Es ist demnach ungeheuer wichtig, jungen Erwachsenen ein authentisch-ästhetisches Bild von Sexualität und ihrer Vielseitigkeit zu vermitteln. „Safe, sane & consensual.“, ein toller Slogan aus der BDSM Szene, der sich auch auf alles andere prima übertragen lässt. Außerdem: Verhütung ist wichtig, Unsicherheiten sind okay, witzige Dinge passieren… auch ein Scheidenfurz ist kein Weltuntergang – ebenso wenig wie eine Erektionsstörung oder Scheidentrockenheit. Sowas sehen wir aber nicht in Pornofilmen oder auf zwielichtigen Plattformen.
VIKA: Was würdest du Kindern über sexuelle Orientierungen erzählen, bzw. was würdest du jungen Erwachsenen raten, wenn sie merken, dass sie eben nicht heterosexuell sind?
Nadine: Früher fehlte es allgemein viel mehr an Aufklärung. Ich meine heutzutage gibt es auf Netflix oder anderen Plattformen/Kanälen Aufklärungsvideos sowie Dokumentationen als auch Serien, die die LGBTQ+ Community und ihren Lebensalltag in den Fokus stellen. Für jüngere Menschen sind Begriffe wie “queer” nichts neues.
Wenn ich mir Videos von Youtuberinnen angucke, die 19 Jahre alt sind und davon erzählen, wie sie bereits mit 14 wussten queer zu sein und sich bewusst von der Bezeichnung bisexuell distanzieren, da diese nur auf Geschlechter und nicht auf Menschen abzielt, bin ich echt überrascht über deren Selbstverständnis und Lässigkeit, mit der sie diese Begriffe merklich überzeugt in den Raum werfen.
Ich wusste mit 14 Jahren noch nicht einmal, dass es eine eigene Bezeichnung dafür gibt, auf Frauen und Männer zu stehen. Ich dachte einfach, ich sei manchmal homo- und manchmal eben heterosexuell. Ein eigener Begriff schafft eine eigene Identität. Sprache ist Macht! Ich denke, so lange Eltern ihren Kindern immer wieder vermitteln, dass alles normal ist und sie sich jeder Zeit an sie wenden können und weiterhin bedingungslos geliebt werden, dann stellen sie sich gar nicht so viele Fragen und sind automatisch weniger unsicher. Die Kids von heute sind teilweise aufgeklärter als wir. Wenn ich mir angucke, was allein auf TikTok an Aufklärungs-Channels unterwegs ist, komme ich jedes Mal ins Staunen. Frei abrufbar und absolut jugendfreundlich erklärt. Das ist sehr viel wert.
VIKA: Danke Nadine!
Wenn ihr mehr über Nadines Erlebnisse und Erfahrungen als bisexuelle Frau in einer offenen Beziehung und aktuellem Leben als Single in Berlin hören wollt, dann hört auch mal in den neuen Podcast von EIS.de „INTIM“ rein. Zusammen mit Ben diskutiert sie hier über Ängste/Unsicherheiten, erste Male und ergründet die Welt der Fetische, Praktiken, sexuellen Fantasien und Sehnsüchte. Als Speakerin war sie außerdem bereits auf RTL und SIXX bei „Paula kommt“ zu sehen. Darüber hinaus trat sie als Gast in mehreren Podcasts und im Radio, auf 1live, auf. Hier geht es zu ihrem Blog, auf dem ihr alle Links und Artikel sowie ihre Kolumne „bi happy“ finden könnt.