Nadine Primo

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Wachstumsschmerz: Selbstreflexion statt Projektion.

Projektionen bestimmen unseren Alltag. Das ist einigen von uns vielleicht nicht wirklich bewusst. Zumindest habe ich aktuell das Gefühl, wenn ich mir die teilweise sehr radikal geführte Debattenkultur, nicht nur auf Social Media, anschaue.

Streit hier, Geschreie dort, Verurteilungen an jeder Ecke. Aber am Ende handelt es sich dann doch meistens bloß um Projektion. Wie immer, sorry, meistens! Immer wäre ja auch wieder eine deplatzierte Verallgemeinerung. Seht ihr? So schnell kann es gehen. Einmal falsch ausgedrückt, zack, in die Ecke gedrängt.

Wie ich darauf komme? Ganz einfach: Als Bisexuelle passiert es mir selbst immer wieder, dass ich aufgrund meiner sexuellen Orientierung gemieden oder falsch eingeschätzt werde.

Lesbische Frauen, die mich gar nicht erst Daten wollen, weil ich mit dem Feind ins Bett gehe; heterosexuelle Männer, die mich zum Sexobjekt degradieren und eine reine Dreier-Fantasie in mir sehen; heterosexuelle Frauen, die mir unterstellen, nach Aufmerksamkeit zu gieren und im gleichen Atemzug gerne mal ihre eigenen gleichgeschlechtlichen Gelüste an mir austesten wollen würden; oder einfach Menschen, die sich in ihrer eigenen Sexualität bedroht fühlen und mir unterstellen, mich einfach nicht entscheiden zu können und dass ich sicherlich irgendwann zur „Vernunft“ kommen werde. Schubladendenken ist eine tolle Sache - und so einfach.

Vernunft, ein Begriff, den ich in diesem Kontext äußerst witzig finde, zumal wohl eher von der eigenen „Verbohrtheit“ die Rede ist. Wie dem auch sei, was ich eigentlich damit sagen will: Vielleicht sollten wir uns in erster Linie fragen, wieso uns bestimmte (Lebens-)Arten besonders triggern und wir infolgedessen vieles persönlicher nehmen, als es eigentlich gemeint ist. Ich kann Diskriminierungen unterlegen sein und gleichzeitig andere Menschen diskriminieren. Das ist etwas, was sich einige vielleicht auch mal vor Augen führen sollten.

Beispiele hierfür habe ich. Darüber zu schreiben, wird mir in der ein oder anderen bubble auf jeden Fall mächtig Ärger einbringen. Aber das ist okay. Manchmal muss Mensch sich eben auch an die eigene Nase packen. Außerdem sollten wir vielleicht nicht vergessen, dass Menschen, die besonders laut sind, nicht zwangsläufig recht haben.

In den letzten Jahren habe ich immer mal wieder lesbische Frauen gedatet, die mir zu verstehen gaben, dass sie sich eigentlich ungern auf Frauen „wie mich“ – Bisexuelle – einlassen. Sie hatten ihre Gründe – definitiv. Dennoch fand ich es spannend, als nach und nach rauskam, dass auch sie sich in manchen Momenten ihrer Sexualität eigentlich nicht so sicher waren, wie sie es gern gewesen wären.

Auf einmal waren da Begegnungen mit Männern, die etwas in ihnen auslösten und sie verwirrten… anders gesagt: Erregten! Wie konnte das sein? Sie hatten sich doch als lesbisch geoutet und das auch vehement kundgetan. Auf einmal landeten auch sie “mit dem Feind im Bett”. Unerwartet, aber es passierte eben. Huups! Wohl doch nicht so radikal…

Sie erzählten es mir, denn ich wäre die Letzte, die sie dafür verurteilen würde. Warum auch? Wenn eine versteht, dass Mensch sich von mehr als einem Geschlecht angezogen fühlen kann, dann ich. (…und viele andere auch.) Laut wollten sie es jedoch nicht aussprechen und schon gar nicht erst zum Gesprächsgegenstand innerhalb ihrer bubble machen.

 

Das Gleiche gilt übrigens auch für, zumindest augenscheinlich, schwer überzeugte heterosexuelle Männer, die männliche Bi- oder Homosexualität als Schwäche auslegen und ihre Geschlechtsgenossen dadurch degradieren, dass sie ihnen ihre Männlichkeit absprechen. Same shit, different perspective! Am Ende steckt dahinter oftmals das eigene Verlangen nach homosexueller Erotik oder gleichgeschlechtlichen Fantasien. Die Angst, diese auszuleben ist jedoch zu groß. Mann will ja nicht den gleichen Diskriminierungen ausgesetzt sein, mit denen er zuvor selbst noch um sich geworfen hat. Angriff ist die beste Verteidigung - oder wie war das?!

Ein Gedanke, der mir kam: Das Ganze könnte fast einem bisexuellen Triumpf ähneln, zumindest gerate ich weniger in die Bredouille mich für meine Spielgefährt:innen rechtfertigen zu müssen. Weder vor mir selbst noch vor anderen, denn ich habe einfach von vorneherein niemanden exkludiert. Easy!

Zugegeben, manchmal musste ich schon ein wenig schmunzeln, wenn ich wieder mal so eine Story präsentiert bekam. Jaja, wir sind alle nicht unfehlbar, geschweige denn perfekt. Und das ist auch gut so! Ich persönlich stelle mir eine Welt, in der wir alle fehlerlos sind, sterbenslangweilig vor.

Wichtig ist, wie wir damit umgehen. Womit genau? Mit Fehlbarkeit! Wie wäre es zur Abwechslung mal mit einer toleranten Fehlerkultur? Davon würden wir alle profitieren, denn wer weniger Angst hat, etwas falsch zu machen, macht in der Regel auch weniger falsch. Unsere Ansprüche definieren wir in der Regel selbst. Just saying…!

Ebenfalls spannend in diesem Kontext: Die inflationäre Verwendung des Begriffs Narzisst:in.  Auf einmal waren angeblich alle Expartner:innen Narzisst:innen. Dass es dabei oftmals eher um Wut und Trauer geht, die ihren Ursprung in der eigenen Unsicherheit und Unfähigkeit Grenzen zu setzen haben, wollen sich viele nicht eingestehen. Zumindest nicht in dem Moment selbst. Ausnahmen bestätigen, wie immer, die Regel. Natürlich ist der ein oder die andere von uns schon mal an einen Menschen mit narzisstischen Charaktermerkmalen geraten. Das will ich gar nicht bestreiten.

Mit wachsendem Abstand kommt die Einsicht dann manchmal doch und das kann so befreiend sein. Denn Einsicht ist nicht nur der erste Weg zur Besserung, sondern gleichzeitig auch ein Befreiungsschlag. Sobald wir aufhören, andere Menschen für unser Unglück verantwortlich zu machen, können wir unser Glück selbst in die Hand nehmen - und wachsen.

Dass dieser Prozess sehr schmerzvoll sein kann, ist eine logische Konsequenz und bereits in dem passenden Begriff enthalten: Wachstumsschmerz.