Nadine Primo

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Homa Abass über die aktuelle Lage der Frauen in Afghanistan

Homa Abass, Gewinnerin des Brigitte-Shero-Awards 2024, ist eine der Gründerinnen und Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins. Sie ist vor kurzem von ihrer Afghanistan-Reise zurückgekehrt und gibt Einblicke in die Arbeit des Vereins vor Ort und erzählt, wie sich die Lage der Frauen seit ihrem letzten Besuch und nach den neuen Erlassen der Taliban* verändert hat.

Interview

1. Was war der Anlass der Reise?

Wir reisen sehr regelmäßig nach Afghanistan, um unsere Projekte zu überprüfen, mit allen Mitarbeiterinnen und Projektteilnehmenden zu sprechen. Wir prüfen dabei, ob alles wie geplant umgesetzt werden kann, wo Herausforderungen sind, was wir ändern oder anpassen müssen und natürlich auch, was besonders gut umgesetzt wurde und Vorbild für andere Projektregionen sein kann.

 2. Welche Regionen habt ihr besucht?

Wir waren in Ghazni, wo wir unsere älteste Mädchenschule haben und suchen hier gerade für ein neues Grundstück, um diese Schule zu erweitern. Hier haben wir auch unsere Hebammen-Stipendiatinnen und Mädchen aus der 7. Klasse getroffen, die aktuell mit unseren Radio-Lernpaketen zuhause lernen. Zur Schule dürfen sie ja aktuell leider nicht kommen. Sie haben uns berichtet, wie gut es tut, weiterlernen zu können.

Bild: Afghanischer Frauenverein e.V.

Aber auch, wie schwer es ist, Mathematik oder Geometrie nur durch Hören und mit einem Buch zu verstehen. Wir werden die Betreuung durch unsere zuständigen Lehrerinnen also verstärken müssen, zum Beispiel. Wir waren auch in unserer Schule im Kunduz und das Team ist auch nach Herat gereist, wo wir gerade Übergangsunterkünfte für Familien bauen, die hier nach den großen Erdbeben noch in Zelten leben…

 3. Wie verlief die Reise?

Wir sind ohne Einschränkungen gut in jedes Projekt gekommen und wurden dort von den Dorfgemeinschaften sehr, sehr herzlich willkommen geheißen. Wir haben bereits seit drei Jahrzehnten eine Beziehung mit den Gemeinschaften. Dorthin zu kommen, ist immer auch nach Hause zu kommen. Es tut gut, mit ihnen zu „sitzen“, wie wir in Afghanistan sagen, sich auszutauschen und zu hören, wo ihre größten Sorgen liegen und wie sie unsere Projekte wahrnehmen.

Bild: Afghanischer Frauenverein e.V.

4. Wie hat sich die Situation der Frauen seit eurem letzten Besuch verändert?

Die Frauen in Afghanistan sind vorsichtiger geworden. Das neue Sittengesetz, das im August 2024 verabschiedet wurde, zeigt schon Wirkung. Waren die Frauen bei meiner letzten Reise im Februar noch bunter gekleidet, weniger Gesichter verdeckt, so tragen die meisten jetzt schwarz oder dunkelgrau, alle tragen Corona-Masken, keine Frau zeigt in der Öffentlichkeit mehr ihr ganzes Gesicht. Auch wenn Frauen noch alleine auf den Straßen zu sehen sind, bewegen sie sich doch vorsichtiger. Über 100 Erlasse schränken ihre Bewegungsfreiheit inzwischen ein und Kontrollen durch Checkpoints und Sittenpolizei werden stärker. Und dennoch lassen sich unsere Kolleginnen vor Ort nicht unterkriegen. Sie kommen jeden Tag zur Arbeit und sie leisten Großartiges, um zu helfen, zu arbeiten und andere zu unterstützen, wo immer es geht. Bisher wurden die Erlasse zwar annonciert, allerdings sind sie noch nicht alle in Kraft getreten, daher hat sich seit unserem Besuch im Februar noch nichts großartig verändert. 

Bild: Afghanischer Frauenverein e.V.

5. Mit wem konntet ihr sprechen?

Wir, als Gäste aus dem Ausland, können ungehindert mit allen sprechen. In Ghazni zum Beispiel mussten wir aus administrativen Gründen auch mit den lokalen Behörden reden, um auf der sicheren Seite zu sein. Da ich Afghanin bin, begleitet mich mein Mann auf allen Reisen. Falls auch wir angehalten werden, ist mein „Mahram“ also immer dabei.

6. Sind weitere Reisen geplant?

Natürlich, mindestens drei Mal im Jahr sind wir vor Ort, und wenn notwendig und etwas Dringendes ansteht auch öfter. Nichts ist wichtiger, als regelmäßig vor Ort zu sein. Nur wenn man wirklich die Situation vor Ort kennt – und sie ändert sich ständig –, kann man gute Entscheidungen für die Projekte treffen. Es ist wichtig, ein eigenes Gespür dafür zu entwickeln, was vor Ort wirklich hilft, was fehlt und wo Probleme angegangen werden müssen.

Bild: Afghanischer Frauenverein e.V.

7. Was wird aktuell am meisten vor Ort gebraucht?

Winterhilfe. Gerade erlebt Afghanistan den ersten Wintereinbruch. Es hat in vielen Regionen geschneit, im Laufe des Dezembers wird es bitterkalt werden. Bis zu minus 30 Grad in manchen Provinzen. Viele Familien leben weiterhin in Zelten. Weil ihnen Überschwemmungen oder Erdbeben alles genommen haben, oder sie aus Pakistan nach Afghanistan gebracht wurden, und hier keine feste Bleibe haben. Gerade planen wir zwei erste Winterhilfeverteilungen für solche Familien in Herat und im Flutgebiet Baghlan, aber weit mehr Hilfe wird gebraucht. 120 Euro zum Beispiel kostet ein Winter-Überlebenspaket für eine Familie.

Bild: Afghanischer Frauenverein e.V.

8. Was können die Menschen in Deutschland tun, bspw. Influencer, Journalisten, Politiker?

Über Afghanistan sprechen, es nicht in Vergessenheit geraten lassen. Es ist sehr still geworden um Afghanistan in der Medienwelt. Andere Krisen und Katastrophen haben die Situation der Frauen und Mädchen dort in den Hintergrund drängen lassen. Wenn die Welt nicht mehr nach Afghanistan schaut, sind Mädchen und Frauen der Situation dort schutzlos ausgeliefert. Es ist so wichtig, dass der Westen ein spürbares Auge auf Afghanistan behält. Deshalb weitersagen, über Afghanistan reden hilft immens… und natürlich auch spenden. Wir können wirklich versprechen: jeder gespendete Euro kommt an und gelangt nicht in die falschen Hände.

Danke Homa, für dein Arbeit und dass du deine aktuellen Eindrücke geteilt hast.

Wie ihr die Arbeit des Vereins unterstützen könnt und was gerade am meisten gebraucht wird, erfahrt ihr auf:

www.afghanischer-frauenverein.de



Gewinnerin SHERO-Preis (Brigitte-Awards 2024**)

"Frauen sollten immer an der Seite von Frauen bleiben", ermahnt Homa Abass. "Dieser Award ist für Mädchen in Afghanistan, die so sehr leiden, aber nicht aufgeben, sondern weitermachen". (Quelle)


*Hintergrund: “Das Taliban-Regime zielt mit neuen afghanischen Laster- und Tugendgesetzen auf die völlige Unsichtbarmachung der Frau. Selbst die Stimme der Frau wird als intim bezeichnet und darf in der Öffentlichkeit nicht mehr gehört werden – nicht singend, nicht reimend, nicht rezitierend.” (Quelle: ProAsyl)

**Zusatz: Nicht von der BRIGITTE Award-Jury wurde die Preisträgerin in der Kategorie "Shero" als Gewinnerin ausgewählt, sondern von den BRIGITTE-Leser:innen. Umso stolzer ist die Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins e. V. Homa Abass über diese Ehrung und richtet nach der Verleihung noch ein paar Worte an das Publikum. (Quelle)