Nadine Primo

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Emotionaler Frühjahrsputz: erst das Drama, dann die Selbstbesinnung.

Materielle Dinge zu entsorgen fällt mir leicht, emotionale Dinge wie Beziehungen hingegen schwer. Woran liegt das?

Wer kennt es nicht: Der Frühling ist da, der graue Winter schon fast vergessen und das Leben erscheint wieder bunter… Endlich raus aus der stickigen Heizungsluft, rein in die ab jetzt noch stickigere U-Bahn. Spaß beiseite: ab in den Wald, raus an den See. Auf einmal sind die Tage wieder länger, heller und ereignisreicher. Die Farben bunter, das Lachen lauter, die Menschen lebendiger. Die Stimmung konstant oder immerhin durchschnittlich positiv. Endlich können die dicken Sachen in den Keller und fortan am liebsten Barfuß über die Wiesen laufen.

Der Frühling bringt ein ganz eigenes Gefühl mit sich: Aufbruchsstimmung. Der Sommer naht und der Frühling ist sein Vorspiel. Ein paar heiße Tage, oder sogar eine heiße Woche bringen dich immer wieder in Stimmung und der ein oder andere graue Regentag lässt dich dann wieder zappeln. Aber die Freude über die immer wiederkehrenden Sonnenstrahlen bleibt ungebrochen. Jedes Mal aufs Neue. Selbst die Bedeutung des Begriffs Frühjahrsputz trägt mittlerweile eine psychologische Komponente in sich, denn diese Tätigkeit soll auch gut für das eigene Seelenheil sein und ein Gefühl der inneren Ordnung und Stärke hervorrufen. Kein Wunder also, dass wir im gleichen Abwasch oftmals Dinge entsorgen und uns alter Habseligkeiten und/oder Erinnerungen entledigen.

Zugegeben,

mir verschafft jede Backpacking-Reise schon allein deshalb ein Gefühl von Freiheit, weil ich mich selten so schwerelos und ohne Ballast gefühlt habe. Außerdem wird mir jedes Mal erneut bewusst, wie wenig ich eigentlich brauche, um zufrieden zu sein und wie schnell sich mein Fokus ändert und meine Prioritäten neu orientieren. Auf einmal steht im Vordergrund: was heute ansteht und nicht wie es vonstattengeht. Es geht allein um die Erfahrung, nicht um das drumherum. In Asien esse ich liebend gern an Straßenständen von altem Plastik-Kindergeschirr. Es stört mich nicht – es schmeckt trotzdem. Wieder daheim ist es mittlerweile selbst auf WG-Partys Gang und gebe das Besteck als auch Geschirr und am besten noch die Tischdeko miteinander harmonieren. Wenn man so viele Ansprüche hat, entstehen doch bereits im Vorhinein Zweifel, ob alles „glatt“ laufen wird, oder?

Na ja, zurück zum Thema.

Der Frühjahrsputz: materielle Dinge entsorgen; immaterielle Dinge festhalten... Beziehungen beispielsweise. Es gibt schließlich auch soziale Verbindungen, die dir zwangsläufig nicht unbedingt guttun. Entweder, weil derjenige dein Spiegelbild ist und in regelmäßigen Abständen nur das Schlechteste in dir hervorruft, weil dein Ego es einfach anders nicht erträgt. Ein schlechter Einfluss, weil er oder sie dich bewusst zu Dingen verführt oder – im Gegenteil – sich nur meldet, wenn (Hilfs-)Bedarf besteht. Eine beste Freundin, die dich ständig nur kritisiert und verurteilt, um selbst besser dazustehen. Ein Partner, der an dir klammert, zumal du laut seinen Aussagen „seins“ bist. Eine Partnerin, die dich nicht wertschätzt und deine Anwesenheit kaum noch wahrnimmt und jeden Fingerzeig darauf als unverhältnismäßige Erwartung empfindet.

Oder, oder, oder…  

Trotzdem sind wir eher dazu geneigt diese Menschen in unserem Leben bzw. unserem Alltag verweilen zu lassen. Mal aus Angst vor dem Alleinsein, mal aus (rosa-roter) Verblendung, mal aus purem Eigennutz oder rein aus dem Gefühl, dass es ja bestimmt bald alles anders werden würde. Aber wird es das? Gut Ding will Weile haben… stimmt schon.

Aber wie lang dauert diese Weile?

Freundschaften gehen irgendwann zu Ende. Das ist unglaublich traurig aber die Realität. Schließlich entwickelt der Mensch sich laufend fort. Ja das tut er wirklich, haha – aber in diesem Kontext ist die Persönlichkeit des Individuums während seiner Lebenszeit gemeint. Wir formen uns gern Biografien und verbinden alles zu einem „Lebenslauf“, damit unser zukünftiger Arbeitgeber sieht, wie ambitioniert wir bereits im Grundschulalter waren und das unsere AG-Wahl in der siebten Klasse ja auch schon die Vermutung hätte aufkommen lassen müssen, dass hier ein geborener Molekularbiologe vor ihm sitzt.    

Alles Blödsinn.

Wir entwickeln uns – im besten Fall – jeden Tag ein Stückchen weiter. Schließlich lernen wir jeden Tag etwas dazu. Darüber hinaus ist es doch auch schön, seine Meinung ab und zu mal zu ändern. Manche Erfahrungen muss man eben erstmal machen, bevor man sie wirklich abschließend beurteilen kann. Manchmal passieren Dinge oder zeigen sich Fügungen auf, die niemand hätte voraussagen können. Wollen wir uns vor diesen Eventualitäten etwa verschließen? Denn eventuell würde uns somit die ein oder andere Chance durch die Lappen gehen…

Mal ganz davon abgesehen,

keine Ahnung, ob nur ich es so empfinde, aber Routine ist doch (meistens) langweilig. Klar, ein gewisses Maß an Routine ist Pflicht. Strukturlosigkeit endet nämlich wiederum zumeist in (Gefühls-)Chaos. Abwechslung macht Freude – Vielfältigkeit gibt einem viele Möglichkeiten. So einfach wie es klingt, ist es jedoch auch nicht immer.

 „Loslassen kostet weniger Kraft als Festhalten, dennoch ist es schwerer.“ [Detlev Fleischhammel]

Dieses Zitat begleitet mich seit einigen Jahren und ich finde es jedes Mal aufs Neue unglaublich tiefgründig, als auch bewegend und traurig zugleich. Traurig, zumal es mir immer wieder bewusst macht, wie sehr ich an „falschen“ Gefühlen festhalte. Falsch in dem Sinne, dass ich ihnen eine überhöhte, fast schon unverhältnismäßige Bedeutung zuspreche. Falsche Gefühle gibt es nicht, versteht mich nicht falsch. Jedes Gefühl hat seine Daseinsberechtigung. Daher ist es ja auch ein emotionaler Frühjahrsputz. Der Moment, in dem man sich alles noch einmal in Ruhe anschaut und überlegt, ob es wirklich Zeit ist Abschied zu nehmen oder auch in der Zukunft weiterhin einen Platz für dieses Objekt/Subjekt findet.

“Dramatische Abschiede können paradoxerweise zur inneren Vervollkommnung führen. Je mehr du im außen loslässt, desto näher kommst du an dein Innerstes heran.”

Ich bin ein Meister im Entsorgen; meine Wohnung ist recht klein, aber an Platz mangelt es mir eigentlich nie. Ich investiere weder viel Geld in neue Kleidung, noch tut es mir weh, wenn ich mich von Dingen trennen muss. Im Gegenteil, es ist jedes Mal ein eher befreiendes Gefühl. Menschen, Freundschaften, Beziehungen hingegen halte ich so lange fest, bis gefühlt nichts mehr davon übrig ist und auch der letzte Weg zurück unmöglich scheint. Scheinbar muss ich gegangen worden sein, weil ich persönlich dann doch immer wieder nochmal vorbeigeschneit komme.

Keine Lust auf Konsequenzen… oder die Entscheidung zu bereuen?

Könnte das der Grund sein? Mein alter Pulli wiederspricht mir schließlich nicht, wenn ich ihn entsorge. Der angesammelte Krims Krams aus der Schublade schaut mir nicht mit traurigem Blick entgegen und wir haben eher wenige intime Momente verbracht. Hat bestimmt auch wieder was mit Kompensation zu tun: minimalistisch leben, aber maximale emotionale Verbundenheit fordern. Haben oder Sein. Die Bedeutung des materiellen Besitzes, den ich weder habe noch anstrebe, manifestiert sich in meinen sozialen Beziehungen. In meinen tiefgründigen, emotionalen Beziehungen: enge Freunde, Familie, Partnerschaft. Hier fällt es mir unglaublich schwer, die Dinge einfach mal gut sein zu lassen. Denjenigen ziehen zu lassen, denjenigen aus meinem Alltag zu entlassen.

Er bzw. Sie gehört doch dazu?!

Aber auch Trennungen sind nichts Endgültiges und gehören in der Liebe eben dazu. Egal, in welchen Formen sie sich zeigt. Man hört den Menschen ja nicht auf zu mögen oder kann seine guten Erinnerungen an ihn löschen. Aber die negativen Aspekte überwiegen und man begreift, dass es vielleicht eine schöne Illusion war, aber eben nicht real, nicht der Realität entspricht oder es in naher Zukunft sein wird. In der fernen vielleicht auch nicht. Möglich ist am Ende dennoch alles. Lass dich überraschen. Positiv oder negativ, es kann beides passieren.

Das Leben ist eine Wundertüte, Spaß lauert an jeder Ecke, Chancen manchmal auch. Bestimmt ist auch mal eine Niete dabei. Aber immerhin weiß man die schönen Momente dann auch wieder besonders zu schätzen. Außerdem gibt es kaum ein schöneres und wertvolleres Gefühl, als jenes, welches sich nach verlustreichen, dramatischen Zeiten einstellt: Kartharsis*.

Logisch: Für die geistige Läuterung ist man schließlich schon früher ins Theater gegangen.

 

Photo: Julia Haak

 

*Die Katharsis bezeichnet nach der Definition der Tragödie in der aristotelischen Poetik die „Reinigung“ von bestimmten Affekten. Durch das Durchleben von Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder erfährt der Zuschauer der Tragödie als deren Wirkung eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen.