Nadine Primo

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Schuld: Parameter für moralische Integrität?

Schuld. Die Schuldfrage. Das Schuldkonzept. Laut Nietzsche ein von der Gesellschaft auf das Individuum projiziertes Gefühl, welches sein Handeln fortlaufend bestimmt und manipuliert. Kinder haben kein Schuldempfinden. Sie bereuen ihre Taten erst, wenn sie dafür zur Rechenschaft gezogen und bestraft wurden. Soweit zur Ausgangsthese des Philosophen.

Ein Seitensprung ist ein weiteres schönes Beispiel hierfür: der Betrüger fühlt sich während des Aktes selten schlecht, sonst würde er es schließlich nicht tun. Er oder Sie verspricht sich etwas davon und sei es bloß die temporäre Befriedigung der eigenen Gelüste oder allgemein gesprochen: des Sexualtriebs. Die Schuldgefühle kommen erst, wenn der Betrogene seine verletzten Gefühle offenbart und das vorhergegangene Handeln des Partners im Nachhinein als schlecht oder moralisch verwerflich bewertet. Manchmal passiert es sogar, dass sich die Schuldgefühle nach der Trennung in eine Art Genugtuung umwandeln oder sich im Verlauf völlig relativieren. Man fühlt sich schlecht, da man eine Abmachung gebrochen oder gegen gesellschaftliche Werte und Normen verstoßen hat, nicht aber, weil man sich für einen kurzen Moment sexuelle Befriedigung verschafft hat.

Die Schuldfrage ist vielleicht vor Gericht ausschlaggebend, aber innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen sollte sie doch eher weniger eine Rolle spielen. Sich schuldig fühlen ist kein schönes Gefühl. Etwas bereuen müssen auch nicht. Jedoch wurden wir bereits in frühester Kindheit darauf konditioniert moralisch zu Handeln und Schuld zu empfinden, als auch andere auf ihr fehlerhaftes Verhalten hinzuweisen. Dadurch erzeugen wir einen enormen Verhaltensdruck auf jeden Einzelnen. Wer möchte schon gern nicht den Erwartungen entsprechen?

Auch der alljährliche „Weihnachtsstress“ ist ein sehr anschauliches Beispiel für die Folgen von gesellschaftlichen Erwartungen an das Individuum: es schickt sich der Familie und Freunden Geschenke zu kaufen, entfernten Be-/Verwandten Weihnachtskarten zu schreiben und beim Fest der Liebe voller Frohsinn beieinander zu sitzen. Aber nicht jeder freut sich darauf Geschenke zu kaufen, die eventuell keinen Nutzen haben oder eh nur höflichkeitshalber entgegengenommen werden.

Es hat auch nicht jeder wirklich Spaß daran, den entfernten Bekannten eine Weihnachtskarte zu schreiben in der lückenhaft und eher sachlich sortiert als emotional formuliert das letzte Jahr in seiner gesamten Fülle durchgekaut wird. Es wird schon einen Grund haben, dass man das ganze Jahr so gut wie keinen Kontakt hatte… wieso also gerade jetzt?

Diese ganzen Erwartungen führen dann letztlich dazu, dass aus dem besinnlichen Weihnachtsfest der erwartungsgeschwängerte Weihnachtsstress resultiert. Die schönen Momente bleiben dabei meist auf der Strecke. Viele handeln aus Pflichtgefühl, eher wenige aus ihrem Gefühl heraus. Aber woher kommt das Verlangen der Menschen sich durch Floskeln, oberflächlicher Höflichkeit und Erwartungen das Leben schwerer zu machen? Wird man dadurch zu einem besseren Menschen? Denn darum geht es doch im Endeffekt: seinem Gegenüber zu demonstrieren, dass man ein gönnerhafter Charakter ist, der sich ständig und zu jeder Zeit um seine Mitmenschen bemüht.

Natürlich ist das wichtig und Menschlichkeit ist meiner Meinung nach mit Abstand die größte und zugleich wichtigste Tugend, aber vergessen wir durch zu viele Nichtigkeiten nicht das eigentlich Wichtige? Wirklich präsent zu sein; frei von Erwartungsdruck und Zwängen zu handeln, ohne Angst zu haben, gesellschaftlich degradiert zu werden? Angst lähmt... auch hier wieder: viele von uns unterdrücken aus Angst vor Ablehnung oder aufgrund von pathologischen Schuldgefühlen ihre wahren Bedürfnisse. Freie Entfaltung funktioniert anders!

Keiner will angelogen werden, aber niemand scheut sich zu lügen. Ist das nicht paradox? Sollte eine freie Meinungsäußerung und tolerante Fehlerkultur nicht selbstverständlich sein? Stehen diejenigen, die verurteilen nicht letztlich am meisten unter Druck fehlerfrei zu sein?! Sind wir nicht alle manchmal gern “ein wenig verrückt, nicht normal, ein wenig falsch”? Ich zumindest schon - ein stark ausgeprägtes Über-Ich ist dabei eher hinderlich.

Wieso haben wir an den witzigsten Abenden meist „zu viel getrunken“ und nicht „die richtige Menge“?! Warum haben wir durch stundenlanges Tanzen übertrieben, und uns nicht einfach nur ausgetobt?! So lange ich mir der Konsequenzen bewusst und bereit bin den Kater am folgenden Morgen mit Würde zu tragen ist doch alles gut. Warum sollte ich also das Gefühl haben, mich dafür schämen zu müssen, indem ich mein Verhalten selbst als „mal über die Strenge schlagen“ stigmatisiere?! Das Phänomen der Ekstase, mehr als einmal zweckentfremdet im Laufe der Jahrhunderte um den Menschen ihren Drang nach Exzess und Rausch (Ausbruch!) mal mehr, mal weniger madig zu machen - sie mit Schuldgefühlen zu belegen!

Mein Fazit? Die moralischen Ansprüche des Individuums regulieren gleichermaßen dessen Schuldbewusstsein. Auch moralische Integrität ist somit flexibel, zumal sie von den individuellen moralischen Wertvorstellungen einer kulturellen Gemeinschaft abhängig ist. Beleg hierfür sind die diversen nationalen Strafgesetzbücher und Grundgesetze, die das Zusammenleben von Gemeinschaften reglementieren sowie organisieren.

Was ich damit sagen will: Es gibt mehr als richtig oder falsch, mehr als schwarz oder weiß. Das Leben ist bunt und voll von Ambiguitäten, die wir aushalten (lernen) müssen.